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Nach dem Verborgenen suchen

 

Seit 20 Jahren inszeniert Immo Karaman Musiktheater. Ein Gespräch über Angst im Theater, die Bereitschaft zum Wagnis und die Frage, was den Menschen vom Löwen unterscheidet

 

Herr Karaman, der Schriftsteller und Dramatiker Peter Hacks schreibt in seinem wunderbaren Buch «Marxistische Hinsichten», Kunst sei nicht für die Utopien zuständig, sondern für die realistische Darstellung der Welt; man müsse zeigen, was ist. Ist das eine Idee, mit der Sie etwas anfangen können?


Unbedingt! Das ist mir sogar sehr nahe. Denn die Arbeit am Theater sollte sich eigentlich auf die Frage fokussieren, wer wir wirklich sind – auch wenn die Antwort leider in den seltensten Fällen erbaulich ausfällt. Aber dieses Defizit macht uns aus. Das sind wir!  Zudem glaube ich, dass es für unser Zusammenleben weitaus günstiger ist, wissen zu wollen, wer wir sind und welche verborgenen Identitäten in uns schlummern. Wenn wir hingegen über Utopien sprechen, intellektualisieren wir sehr schnell und bauen Luftschlösser – da gibt es oft kein Lot in die schwarze Tiefe unseres realen Daseins. Es ist doch viel spannender und vermutlich auch richtiger, Mikrokosmen zu erschaffen, in denen wir uns selbst beobachten können. Wir gehen ja auch gerne ins Aquarium oder Terrarium und sind gefangen genommen von den kleinen Welten, die wir dort sehen. Das Faszinierende daran ist, dass wir dabei der Suggestion erliegen, wir würden Lebewesen in ihrer natürlichen Umgebung wahrnehmen. Etwas Ähnliches passiert ja auch im Theater. Wie dieses Biotop gebaut ist, mit welchen Mitteln, auf welcher Abstraktions- und Bewusstseinsebene das angesiedelt ist, spielt eine ganz andere Rolle. In meiner Arbeit habe ich jedenfalls immer die Sehnsucht, mich bereits bei den Proben ein gutes Stück herauszuziehen, also gar nicht mehr wirklich anwesend zu sein, um wie der Aquariumsbesucher genau beobachten zu können: Wie bewegen und verhalten sich Menschen in dem Lebensraum, der ihnen zur Verfügung steht? Wie auch immer die Antwort ausfällt: Menschliche Abgründe haben da im Gegensatz zu vielen vollmundigen Utopien weitaus mehr Platz.

Von David Hume über Friedrich Hölderlin bis zu Gottfried Benn haben Autoren nicht eben günstige Antworten auf die Frage gegeben, was der Mensch sei. Einzig Jean-Jacques Rousseau übte sich in Gnade: Eigentlich seien wir gar nicht so schlecht, erst die normative Macht des Sozialen mache uns zu Bestien ...


Wie beurteilen wir das Reißen einer Beute durch einen Löwen? Das ist in unseren Augen naturgegeben, also eigentlich völlig normal und notwendig. Ein Löwe wäre ja degeneriert, wenn er das nicht mehr tun würde. Ohne das Töten würde seine Art aussterben. Wie sieht es bei uns Menschen aus? Wir töten in Kriegen, wir töten die Natur um uns herum, wir töten aus Liebe und Habgier,  und wir töten mit Blicken. Allein ein Fernsehabend reicht, um mit einer unfassbaren Vielzahl von Tötungsdelikten konfrontiert zu sein. Das Vernichten ist ein viel größerer Teil unserer DNA, als wir es wahrhaben wollen. Und ich glaube, nur, wenn wir uns das vor Augen führen und uns darin erkennen, haben wir – auch aus Abscheu vor uns selbst – die Chance, einen «humanistischen» Entwurf von uns als Menschen anzustreben und zu einer Daseinsgrundlage werden zu lassen. Allerdings: Unsere ureigenste Natur bleibt dabei immer eine Bürde, und das Verborgene in uns selbst zieht uns mit maßlosem Gewicht in die Tiefe. Kein Mensch wird Zeit seines Lebens die Frage nach der eigenen Identität allumfassend für sich beantworten können. Vermutlich dringen gerade mal 30 Prozent von dem, wer und was wir sind, in unser Bewusstsein. Der Rest liegt meines Erachtens komplett im Dunklen wie in einer Blackbox. Und nicht nur jeder Einzelne von uns wohnt in einer solchen Box. Unsere gesamte Entwicklungsgeschichte ist darin enthalten, all die kollektiven Erfahrungen, unser kollektives Unterbewusstsein. Anders gesagt: Wir sind nicht nur wir selbst, wir sind auch unsere eigene Evolution. Wir sind Grausamkeit, Tod, Liebe, Zuneigung, wir sind all das, zu jedem Zeitpunkt. Wenn wir also an den Menschen an sich glauben, dann müssen wir das Gesamtpaket betrachten. Keiner von uns ist nur gut, und seien wir ehrlich: Wer erträgt schon gerne das Gutmenschentum des anderen?

Suchen Sie als Regisseur eher nach den 30 Prozent dessen, was unsere Identität ausmacht, oder nach den 70 Prozent?


Die 30 Prozent sind ja evident, also suche ich immer nach dem, was im Verborgenen liegt. In der Versuchsanordnung des Theaters, in dem scheinbar geschützten Moment des Beobachten-Könnens, erlauben wir uns diese überaus intimen und durchaus beunruhigenden Einblicke, begeben wir uns auf eine Tauchfahrt in die Tiefen unseres Daseins. Musik ist dabei ein fantastisches Echolot. An diesem Ort schlummern weit mehr Fragen und Mysterien, als wir uns vorher bewusst machen können. Mich interessieren die Momente, in denen uns die Worte fehlen, wo das Hier und Jetzt ein Cocktail von widersprüchlichen Gefühlen ist, deren Ambivalenz wir nicht einmal mit unserer durchdeklinierten deutschen Sprache definieren können. Und wenn wir als Zuschauer in dieser Ambivalenz im selben Moment Mitgefangene sind, wir hin- und her gerissen nach Worten suchen und uns dieses Vakuum, das uns auf eine ganz andere Bewusstseinsebene katapultiert, geradezu quält, dann haben wir einen kleinen Schatz gehoben, da sind wir ganz nah am Menschen.

Geht es im Theater eher um emotionale Überwältigung oder um intellektuelle Durchdringung?


Es muss mich erst mal kalt erwischen und durch die Eingeweide gehen, bevor ich versuche, das Gesehene (und Gehörte) einzuordnen. Es ist doch großartig, wenn einen irgendetwas berührt, von dem man möglicherweise gar nicht wusste, dass es imstande ist, einen zu berühren: wenn mir Tränen in die Augen schießen, ich eine Gänsehaut bekomme oder unfreiwillig lache, bevor ich überhaupt begreifen kann, welche Prozesse gerade in mir ausgelöst wurden. Da erfahre ich etwas über mich. Und das sind Prozesse, die wir nicht intellektuell steuern können. Im Gegenteil: Unser Intellekt verschafft uns zu häufig eine comfort zone.  

Also steht im Mittelpunkt doch die aristotelische Erschütterung, die dadurch hervorgerufen wird, dass man das Drama des Anderen sehen, erleben und spüren kann. Bedeutet das auch, dass Sie als Regisseur Teil der emotionalen Überwältigungsstrategie sind?

 
Zunächst bin ich ja auch immer mein erster Zuschauer. Und als Zuschauer bin ich leider oder Gott sei Dank sehr ungnädig, insbesondere mir selbst gegenüber. Bedeutungslosigkeit oder schiere Oberflächlichkeit sind für mich schwer zu ertragen, spürt man dabei doch seine eigene Lebenszeit schier unerträglich verrinnen. Wohingegen der intime Austausch mit anderen Menschen über unser Innerstes ja geradezu eine Utopie inmitten unserer verschlossenen und schweigsamen Gesellschaft darstellt. Wenn eigentlich fremde Menschen im Probenraum, auf der Bühne oder auch im Publikum live aufeinandertreffen und dort dieser zwischenmenschliche Diskurs unmittelbar stattfindet, hat vermutlich nur das Theater die Macht, diese Utopie Realität werden zu lassen. Ein Zoom-Meeting oder auch ein Stream kann dieses Erlebnis nicht ersetzen. Mir bleiben diese Formen distanzierter Kommunikation fremd, und ich spüre, dass der Spalt zwischen einem virtuellen Erlebnis und dem realen Leben immer größer wird ...

... der ja, mit psychologischer Vertiefung durch den James’schen stream of consciousness, in Brittens «Turn of the Screw» auch ein beherrschendes Thema ist. Sie haben das Stück bereits zweimal inszeniert, zunächst in Leipzig und Düsseldorf, nun in Hannover. Gleicht das eher dem Kierkegaard’schen Prinzip «Erinnerung durch Wiederholung», oder denkt man es als Stück ganz neu?


Zunächst hatte ich in der Tat die Befürchtung, ich würde mich wiederholen. Aufgrund der veränderten Produktionsbedingungen musste die Inszenierung aber ohnehin ganz anderen Prämissen folgen – unter anderem ein nicht eben üppiges Budget, verringerte Werkstattkapazität und Abstandsregeln –, und mir wurde sehr schnell klar, dass sich mit einem gewissen Kondensat der bisherigen Erkenntnisse im Gepäck neue erzählerische und ästhetische Perspektiven auf das Stück eröffnen würden. Generell glaube ich inzwischen, dass es gut ist, bestimmten Stücken nach einer gewissen Zeit noch einmal auf den Grund zu gehen, weil man sicher noch tiefer gräbt als beim ersten Mal. Man ist ja ohnehin nie am Ziel.

Also eine Art Tiefenbohrung?


Ja, durchaus, oder vielleicht auch eine Reise ins Ungewisse. Ich verspüre im Probenprozess oft den Drang, vergessen zu wollen, wie ein Stück zu Ende erzählt wird und was auf der letzten Seite steht, weil es mir Energie und meine Neugier auf das, was passieren könnte, stiehlt. Natürlich gibt es ein Konzept, ein Bühnen- und Kostümbild, aber all das sollte eine Vielzahl von Optionen beinhalten, die mir auch noch im Inszenierungsprozess unverhoffte Erkenntnis- und Entscheidungsmomente ermöglichen.

Das klingt in seiner freien Hinwendung zum Endergebnis ein wenig nach Schauspiel, während man in der Oper in den imaginären Händen der Regisseurinne und Regisseure häufiger einen festgefügten Baukasten beobachten kann ...


Vielleicht. Aber ich glaube, es besteht bei mir diesbezüglich eine gewisse Ambivalenz. Einerseits will ich unglaublich fokussiert und vorbereitet sein; ich bin niemand, der die Dinge gerne über völlig freie improvisatorische Vorgänge erfährt, und bevorzuge die kleinen, sehr genau analysierten Schritte, das Ausprobieren über ein aufmerksames Vortasten. Erst dann spüre ich, wie der nächste Schritt ausfallen kann. Entscheidend ist für mich aber auch, welcher emotionale Geruch in einem Raum gerade entsteht und was sich darin an szenischer Konsequenz entfalten kann. Natürlich könnte ich mir vieles vorher an meinem Schreibtisch akribisch ausdenken. Doch erstens macht mir das weniger Spaß, zweitens kann und will ich den Menschen in seinen Befindlichkeiten nicht intellektuell bereits zu Ende gedacht haben und drittens brauche ich die Begegnung mit der Darstellerin oder dem Darsteller, um quasi erst am «Lebendobjekt» in die viel wesentlicheren Untiefen eintauchen zu können. Meine Vorbereitung gleicht eher dem Erschaffen eines stück­spezifischen Biotops, in dem Musik und Grundkonflikt den «bakteriellen Nährboden» liefern und dessen Gesetzmäßigkeiten wir uns dann auch im nächsten Schritt unterwerfen müssen. Aber erst beim wirklichen Betreten dieser Welt stellt sich heraus, was darin passieren kann ...

... was natürlich auch davon abhängt, wer Ihre Protagonisten sind.


Ja, das stimmt. Das Schönste ist natürlich, es mit Darstellerinnen und Darstellern zu tun zu haben, die auf meine Art zu inszenieren anspringen, die empfindsam und sensibel und vor allem geduldig mit sich und dem Probenprozess sind. Metaphorisch gesprochen habe ich immer sowohl Konstantin Stanislawski als auch Wsewolod Meyerhold im Gepäck. Manche Sängerinnen und Sänger docken sofort in der psychologischen Auslotung eines Charakters an und haben eine so unmittelbare Ausdrucksfähigkeit, dass darüber auch sofort physisch eine durch und durch glaubhafte Figur entsteht. Anderen hilft, im ersten Schritt zunächst eine spezifische Körperlichkeit oder quasi eine szenische Choreografie zu entwickeln, um dann darin erleben zu können, wie eine solche Figur sich innerlich fühlt und die Welt erlebt. Das Wesentliche aber ist die Bereitschaft, Wagnisse einzugehen und etwas auf den Weg zu bringen zu wollen, was zu Beginn der Arbeit noch nicht möglich oder denkbar war.

Sind Sie dabei auch therapeutisch tätig? Müssen Sie es womöglich sogar sein?


«Therapeutisch» ist ein großes Wort, ich möchte ja niemanden heilen. Allerdings ist es mir ein Bedürfnis, den Darstellerinnen und Darstellern zuvorderst ihre Angst zu nehmen und ihnen über die Produktion einen Schutzraum zu erschaffen. Ich hoffe, dass mir das über weite Strecken gelingt. Angst ist ja ein großes Thema in unserem Zusammenleben generell, aber insbesondere auch im Theater: Die Angst sich zu öffnen, abgelehnt zu werden, unter Druck zu geraten. Besonders groß die Angst, die Kontrolle über sein eigenes Können, sein Talent und dessen Potenzial zu verlieren und zu scheitern. Davon sind auch wir Regisseurinnen und Regisseure nicht ausgenommen. Und gerade, weil erlebter Druck immer Gefahr läuft, weitergegeben zu werden,  beanspruche auch ich für mich und mein engstes Team, vom Theater einen großzügigen Schutzraum zur Verfügung gestellt zu bekommen. Angst ist kein guter Partner in kreativen Prozessen.

Aber können Sie als Regisseur in einem Theater so auftreten und offen bekennen, dass Sie Angst haben?


(lacht) Sagen wir es so: Dort, wo genau das möglich ist, fühle ich mich zu Hause. Ich habe schon gemerkt, dass ich sehr darauf achten muss, wo und mit wem ich es in der Arbeit zu tun habe. Manchmal passt es nicht, und damit meine ich nicht, dass immer alles auf einer einvernehmlichen, glattgebügelten Harmoniewelle stattfinden muss. Aber Vertrauen in mich und meine Arbeit ist mir extrem wichtig: Wenn ich engagiert werde, macht es für mich keinen Sinn, dass ich am selben Haus künstlerisch, methodisch oder auch persönlich dennoch kategorisch in Frage gestellt werde. Da sind manchmal ganz vordergründige Autoritätsbekundungen nötig, um klarzustellen, wer hier am Theater das Sagen hat. Aber unsere Rollen und Aufgabenbereiche sind doch bereits klar definiert, und ich habe überhaupt kein Interesse mehr, mich auf dieser Ebene artikulieren zu müssen. Als Künstler verausgabe ich mich ohnehin in jeder Produktion aufs Neue, da möchte ich inzwischen sichergehen, dass meine Energie ungebündelt in die produktive, künstlerische Arbeit fließen kann. Nur so gelingt es mir, aus genau dieser Arbeit auch erneut so viel positive Energie zu ziehen, um für das nachfolgende Engagement wieder vollgetankt dastehen zu können.

OPERNWELT 09/2021 Jürgen Otten

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